Amnesty International
Irak 2019:
Aus dem Bericht vom 18. Februar 2020 über die Ereignisse im Irak
Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Exzessive Gewaltanwendung
Zwischen Oktober und Dezember 2019 gingen Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Protestierende vor. Dabei wurden 500 Personen getötet und Tausende verletzt.
Bei den Protesten vom 1. bis zum 7. Oktober 2019 töteten Sicherheitskräfte zahlreiche Menschen und verletzten Tausende, als sie zur Beendigung der Demonstrationen scharfe Munition, Tränengas und Wasserwerfer mit heißem Wasser einsetzten.
Nach Angaben von Augenzeug_innen wurden Protestierende in Bagdad von Scharfschützen getötet, die hinter den Linien der Sicherheitskräfte postiert waren. Protestierende gaben außerdem an, bewaffnete Männer hätten auf sie geschossen und versucht, sie mit Fahrzeugen zu überrollen. In Za’faraniya, einem Stadtviertel von Bagdad, seien Demonstrierende umzingelt und ununterbrochen mit scharfer Munition beschossen worden. Augenzeug_innen berichteten außerdem, Sicherheitskräfte hätten Protestierende, die entkommen wollten, gejagt, eingekreist und mit Metallstangen und Gewehrkolben geschlagen.
In mehreren Städten in den Provinzen im Süden des Landes zündeten Protestierende Gebäude an, die in Verbindung standen zur Regierung, zu politischen Parteien oder zu den Volksmobilisierungseinheiten, die seit 2016 Teil der irakischen Sicherheitskräfte sind. Mindestens zwölf Protestierende kamen bei einem dieser Brände ums Leben. Angehörige der Volksmobilisierungseinheiten töteten einige Protestierende, die versuchten, sich ihren Gebäuden zu nähern.
Eine von Ministerpräsident Adil Abdul Mahdi angeordnete Untersuchung der Vorfälle vom 1. bis 7. Oktober ergab, dass der Tod von 149 Protestierenden und acht Angehörigen der Sicherheitskräfte auf den Einsatz exzessiver Gewalt, wie z. B. die Verwendung scharfer Munition, zurückzuführen war. Mehr als 70 Prozent von ihnen waren durch Schüsse in Kopf oder Brust getötet worden. Die Untersuchung ergab weiterhin, dass hochrangige Befehlshaber der Sicherheitskräfte die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt zwar nicht angeordnet, wohl aber die Kontrolle über ihre Einheiten verloren hatten. Einige der Befehlshaber wurden in der Folge ihrer Ämter enthoben.
Als am 24. Oktober 2019 eine neue Welle von Protesten ausbrach, reagierten die Sicherheitskräfte wieder mit exzessiver Gewalt. Am 25. Oktober feuerte die Bereitschaftspolizei in Bagdad spezielle Gasgranaten in die Menge, die für Militäreinsätze entwickelt wurden, und laut Augenzeug_innen eher dazu bestimmt waren, Menschen zu töten, als sie auseinanderzutreiben. Sie waren zehnmal schwerer als übliche Tränengaskartuschen und töteten fast jede Person, die davon getroffen wurde. Freiwillige Ersthelfer_innen berichteten, die Granaten seien mitten in die Menge friedlich Protestierender geschossen worden und hätten dazu geführt, dass Männer, Frauen und Kinder ohnmächtig wurden oder erstickten.
Am 28. Oktober 2019 setzten Sicherheitskräfte in der südirakischen Stadt Kerbala scharfe Munition und Tränengas ein, um eine Ansammlung überwiegend friedlich Demonstrierender aufzulösen. Außerdem vertrieben sie friedliche Teilnehmer_innen einer Sitzblockade und versuchten, Protestierende mit Fahrzeugen zu überrollen.
Auch den gesamten November über gingen Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor, besonders häufig in Bagdad, Basra, Najaf und Nasiriya. In der Nacht vom 27. November 2019 wurden Berichten zufolge in Najaf mindestens zwölf Protestierende bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften getötet. Zuvor hatten Protestierende das iranische Konsulat in der Stadt gestürmt und angezündet. In der darauffolgenden Nacht griffen verschiedene Sicherheitskräfte Protestierende in Nasiriya an und töteten mindestens 30 Personen. Viele weitere wurden verletzt.
Willkürliche Inhaftierung und Einschüchterung
Im Zusammenhang mit den Demonstrationen wurden Aktivist_innen und ihre Rechtsbeistände, medizinisches Personal, das Verletzte versorgte, und Medienschaffende, die über die Proteste berichteten, von den Geheimdienst- und Sicherheitskräften sowie von Angehörigen der Volksmobilisierungseinheiten systematisch eingeschüchtert. Betroffen waren insbesondere Personen, die das Vorgehen der Sicherheitskräfte kritisierten. In vielen Fällen wurden Aktivist_innen in Gewahrsam bedroht, geschlagen und gezwungen, Erklärungen zu unterschreiben, in denen sie versprachen, künftig nicht mehr zu protestieren, bevor man sie freiließ. Aktivist_innen sagten aus, die Sicherheitskräfte hätten sie gewarnt, dass ihre Namen auf einer Liste des Geheimdienstes stünden.
In Bagdad berichteten Aktivist_innen, Männer in Zivil, die sich als lokale Geheimdienstmitarbeiter ausgaben, hätten sie zu Hause besucht und zu ihren Aktivitäten während der Proteste verhört. In keinem dieser Fälle häten sie einen Haftbefehl oder einen Durchsuchungsbeschluss vorgelegt. In Bagdad und Kerbala wurden verletzte Protestierende in Krankenhäusern festgenommen. Dies führte dazu, dass viele Verletzte gar nicht erst medizinische Hilfe in Anspruch nahmen. In Kerbala berichteten einige Festgenommene, Sicherheitskräfte hätten Protestierende, darunter auch Minderjährige, bei Verhören geschlagen und verletzt.
Von Anfang Oktober bis Ende Dezember 2019 wurden zahlreiche Protestierende und Aktivist_innen aus Bagdad, Amara, Kerbala und anderen Orten von Sicherheitskräften entführt oder fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Einige wenige wurden nach ein paar Tagen oder Wochen wieder freigelassen. In Bagdad erschossen Unbekannte mehrere Demonstrierende und griffen die Büros lokaler oder regionaler Medien an, die über die Proteste berichteten.
Ausgangssperre und Blockade des Internets
Die Behörden verhängten im Oktober und November 2019 häufig Ausgangssperren und blockierten mehrfach das Internet im ganzen Land – mit Ausnahme der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Später war ein eingeschränkter Zugang zum Internet wieder möglich, die sozialen Medien blieben jedoch blockiert. Es wurde weithin angenommen, dass die Behörden das Internet während der Niederschlagung der Proteste abgeschaltet hatten, um zu verhindern, dass Fotos und Videos Verbreitung fanden, die das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte zeigten.